Mittwoch, 25. März 2020
Das Früchtchen - Kapitel 1/II
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Erstes Kapitel - Zweite Hälfte (Strang 1 - Ich-Erzähler - ab. 14. August)

Das Früchtchen genoss es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. Es strahlte bis über die beiden hochstehenden fürstlichen Wangenknochen. Um für die Provinz nicht overdressed zu erscheinen, hatte es sich für eine schlichte Hochsteck-Frisur und eine Jeansjacke über dem schwarzen Abendkleid entschieden. Das Früchtchen wurde für seinen mutigen Einsatz im Discounter geehrt. Der Bürgermeister von Groß-Amstadt hatte geladen. Die örtliche Presse drehte ein Video mit dem iPhone. Ein viereckiges Leuchtkissen kleidete das putzige Podest in weiches Licht. In dem Rathaus aus dem 17. Jahrhundert roch es nach Zwiebelkuchen und Amstädter Wein. Zwischen den Stützen des Holzfachwerks saßen andächtig die lebensfrohen Dicken und die hageren Perfekten. Die Zeremonie an sich fiel dann recht bescheiden aus. Wahrscheinlich zu Gunsten des opulenten Büfetts. Die Dicken wollten Wein, die Hageren aßen Zwiebelkuchen.
Das Früchtchen hatte sich kurz nach dem Wohl der Kinder erkundigt und stand jetzt zusammen mit mir und den beiden Mädchen etwas abseits vom großen Fressen.
Mit einem Teller und einem Weinglas in der Hand näherte sich der Bürgermeister. Er war ein kleiner Mann mit einer Halbglatze, der trotz seiner bescheidenen Gestalt eine gewisse Autorität ausstrahlte. Er lächelte. Für einen Augenblick meinte ich, etwas Schadenfreude in seinem Gesicht erkannt zu haben.
Er reichte dem Früchtchen das Glas. „Liebe Fürstin von Drüggeberg, mir ist ein riesiger Stein vom Herzen gefallen, als ich hörte, dass eine angesehene Berliner Unternehmerin wie Sie in unseren gräflichen Forst investiert. Zuletzt hatte unser Graf nämlich ein nicht mehr so ganz glückliches Händchen bewiesen, was den ökonomischen Aspekt seiner Ländereien anging.“
„Ist mir auch schon aufgefallen“, erwiderte das Früchtchen und zog die linke Augenbraue in die Höhe. „Hören Sie, mein lieber Bürgermeister, haben Sie noch einmal darüber nachgedacht, ob die Stadt nicht doch eine Bürgschaft für den von mir beantragten Kredit zum Erhalt des Jagd-Schlösschens in Erwägung ziehen könnte?“
„Nein! Der alte Graf, Mallorca hab’ in selig, hat der Stadt in der Vergangenheit schon zu viele Zugeständnisse abgerungen. Im Namen unserer Bürger und aus wirtschaftlicher Sicht kann ich Ihnen da nicht mehr weiter entgegenkommen.“

An einer roten Ampel auf der Rückfahrt.
„Dieser Schleimer von Bürgermeister wird mich noch kennenlernen!“, empörte sich das Früchtchen. Es hielt mir sein iPad übers Lenkrad. „Auf der städtischen Tourismus-Seite im Internet macht er Werbung mit der einzigartigen Natur und den unersetzlichen Kulturgütern von Groß-Amstadt. Die Startseite zeigt mein Jagd-Schlösschen. Und hier: Auf der nächsten Seite sieht man glückliche Familien, die durch meine Wälder radeln. Und noch schlimmer: Hier picknicken sie auf meinen Bänken. Und anschließend muss ich meine Waldarbeiter dafür bezahlen, dass die den Müll seiner schlampigen Familien wieder wegräumen. Trotzdem will er nicht für meinen Kredit bürgen, diese doppelzüngige Natter.“
„Schon klar“, meinte ich, „was mich mal interessieren würde, ist, wie der alte Graf sein Geld verdient hat. Von irgendwas muss der doch auch gelebt haben.“
„Ich habe mich mit seinen Büchern beschäftigt. Das einzige, mit dem er wenigstens noch ein bisschen Geld verdiente, war der Holzverkauf.“
„Dann verkaufen Sie doch einfach mehr Bäume. Dann könnten wir schon mal ein paar Ausbesserungsarbeiten am Dach des Schlösschens bezahlen.“
„Warum bin ich da nur nicht selbst draufgekommen? Bäume habe ich ja schließlich ohne Ende. Wahrscheinlich habe ich die deshalb nicht bemerkt, weil ich sogar ganze Wälder davon besitze.“
Ohne das Früchtchen ansehen zu müssen, merkte ich, wie es aus seinen grünen Augen glühende Zornesblitze auf mich abschoss.
Kleinlaut fragte ich: „Habe ich was Falsches gesagt?“
„Die Frage ist doch eher, wann Sie schon mal etwas Richtiges von sich gegeben haben.“
„Was war denn an meiner Aussage falsch?“
„Alles! Aber man kann es Ihnen eigentlich auch nicht verübeln, bei dem dämlichen pädagogischen Gedöns, das Sie studiert haben. Wie sollen Sie da wissen, auf was es in der Wirtschaft ankommt.“
„Gedöns? Das habe ich jetzt überhört. - Jedenfalls denke ich, dass es wirtschaftlich nicht schaden kann, wenn man etwas besitzt, das man verkaufen kann.“
„So, denken Sie das? Als ob es um die Bäume ginge. Es geht um die Kosten, die mir beim Fällen der Bäume entstehen.“
„Na, so viel kann es ja nicht kosten, ein paar Bäume zu fällen.“
„Vielleicht nicht wenn Sie in Brasilien leben. Dort suchen Sie sich einfach ein paar Tagelöhner, die Sie nicht versichern, sparen sich die Schutzkleidung und bezahlen statt der Lohnnebenkosten die zuständigen Beamten, damit die wegschauen. Neue Maschinen brauchen Sie dort auch nicht. Sie schütten in die alten oben einfach so viel Öl rein, dass es unten wieder rausläuft und die Dinger nicht verrecken. Umweltschutz und den ganzen Schnodder, da schniefen die dort nur mal lässig ins Unterholz.“
„Also so hoch können die Lohnkosten doch nicht sein.“
„Bitte? Für das, was mich ein gelernter Waldarbeiter kostet, könnte ich mir glatt drei von Ihrer Sorte leisten.“
„Bitte? Ich hatte doch schon immer das Gefühl, dass Sie mich nicht richtig bezahlen.“
„Tja, so ergeht es einem halt, wenn man Gedöns studiert, anstatt was Richtiges zu lernen.“

Im Jagd-Schlösschen.
Das Pflänzchen hatte es sich auf einem abgewetzten Ledersofa bequem gemacht. Es las eifrig in einem der alten gräflichen, noch handschriftlich verfassten Kassenbücher. Wind wehte an dem Augusttag durch die geöffneten Fenster der Wohnstube. Die Geweihe waren auf Anweisung der Hausherrin in den Keller verbannt worden. Um dem Denkmalschutz gerecht zu werden, hatte ich die Wände weiß gekalkt. Als Nächstes wollte ich die alten Bodenbohlen abschleifen. Momentan war aber kein Geld in meiner Haushaltskasse übrig, um die Ausleihe für ein Schleifgerät zahlen zu können.
Als ich den Tisch abdeckte, beobachtete ich, wie das Früchtchen langsam über seinen Unterlagen eindöste. In Zeitlupe knickte der Kopf zu Seite, der Mund öffnete sich und ein fürstliches Schnarchen ertönte.
Ich musste grinsen. Durchs Fenster bemerkte ich eine Gestalt, die sich dem Eingang näherte. Das Früchtchen aus seinem Nickerchen zu wecken, konnte eine äußerst schlechte Laune nach sich ziehen. Deshalb beschloss ich, unseren Besuch vor der Tür abzufangen.
„Ei, gude Mosche. Na, alles gud bei euch?“
„Im Moment ist es grade mal ruhig“, entgegnete ich unserem fülligen Förster.
„Na, des iss doch schö. Ich will auch net lang störe. Mir müsse wisse, wann mir die Setzlinge jetzt endlich pflanze könne. Bei der Hitz müsse die aus de Pött. Sonst vertrockne die.“
„Sie hatten mir doch damals erklärt, dass die Setzlinge keine zwei Wochen überleben würden, wenn sie abbrechen müssten. Das ist jetzt sechs Wochen her, und ich dachte, das Thema hätte sich erledigt.“
„Ei, nee. Mir habe die jeden Abend gegosse. Wär doch schad drum, net?
„Absolut. Aber äh …“
„Eigentlich will ich auch nur wisse, welchen Abstand mir zu dem Dode lasse solle.“
„Bitte? Zu dem Dode?“
„Na, zu dern Leich, die ihr dort verbuddelt habt. Meinet Sie das in meinem Wald was geschieht, von dem ich nix wisse tät?“
„Nein, meine ich nicht. Äh …“
„Mache Sie sich kein Kopp wege dem Moralische. Mir denket da eher praktisch bei uns.“
„Praktisch?“
„Pragmatisch.“
„Das Wort, das Sie meinten, hatte ich schon verstanden. Nur, was genau wollen Sie mir damit jetzt sagen?“
„Dass mir sicher eine pragmatische Lösung finde tun.“
„Tun mir finde?“
„Also mir ham beratschlagt. Mei Arbeiter und ich. Und es wär uns wichtig, dass mir einen garantierten Arbeitsplatz gewissermaßen auf Lebenszeit hier im gräflichen Wald hätte. Mit meinem Rücke bin ich ja auch net mehr de Jüngst.“
„Das klingt mir irgendwie nach Erpressung.“
„Findet Sie? Für mich klingt des eher praktisch gedacht.“
„Verstehe. Ich werde es meiner Chefin ausrichten.“
„Ei, gud so. Und was mache mir jetzt wege de Setzlinge?“

Ich stand in der Küche, Lilli und Lulu saßen auf der Eckbank und machten Hausaufgaben. Angestrengt überlegte ich, wie ich meiner Chefin erklären sollte, dass ihre Arbeiter jetzt gewissermaßen zur Familie gehörten.
Da schlurfte ein gähnendes Früchtchen in die Küche: „Ich war kurz eingeschlafen. Ist in der Zwischenzeit etwas passiert, von dem ich wissen sollte?“

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